Meine Großmutter verließ diese Welt, als ich 18 war. Zerstört, wie ich war, fiel mir die Aufgabe zu, die Trauerbegleiterin meiner Mutter zu sein – beim Tod ihrer eigenen Mutter. Dieses eine Ereignis in meinem Leben zeigte, woraus ich geschaffen bin und welchen Beitrag ich der Welt zu schenken habe.
Ich erinnere mich an jeden Augenblick, als wäre er in mein Gedächtnis eingebrannt, tätowiert. Trauer ist so: Sie verzehrt dich, schleicht sich unter die Haut und wird zu einem Teil dessen, wer du bist.
Ich arbeitete bei einem Seminar als Assistentin der Koordinatorin und unterhielt mich mit einer Freundin, als der Anruf kam. Es war meine Tante:
»Nani?...« mein Spitzname, doch da schwang etwas in ihrer Stimme mit... Ich stand ganz still, als könnte jede Bewegung einen Erdrutsch auslösen, doch wenn ich mich nicht bewegte, würde vielleicht nichts geschehen. Vielleicht würde sie nicht die Worte aussprechen, die sie dann ausprach, und ich würde diese Geschichte jetzt nicht erzählen. Aber ich bewegte mich. Ich bewegte mich, weil ich nach Luft schnappte, und meine Hand fand meine Brust, und sie tat es, weil mein Herz schmerzte. Ich bewegte mich, verstehst du? Ich bewegte mich, und sie sagte es: »Nani, komm nach Hause, deine Großmutter ist gestorben.«
In diesem Moment hörte ich auf zu atmen, meine Knie gaben ein wenig nach, denn da war eine Frage, die gestellt werden musste, meine Trauer brauchte eine Richtung: »Welche Großmutter?« Ich hatte zwei. Für welche sollte ich jetzt zu Boden fallen?
»Deine Oma Carmem.«
Die Mutter meiner Mutter.
Meine Knie waren fort, zersplittert wie zerbrochenes Glas, wie meine Welt in jenem Moment. Ich fiel. Meine Freundin fing mich auf. Ich sah Menschen, die Seminarteilnehmer, wie sie aufstanden, um zu helfen, zu fragen, zu erfahren. »Was ist passiert? Ist jemand gestorben?«
Ja. Meine Großmutter.
Die Fahrt nach Hause war erfüllt von dem nebligen Gefühl erstickter Gedanken. Erinnerungen stürmten herein wie die Wellen eines zornigen Ozeans. Etwas war an diesem Morgen geschehen, etwas, das ich niemandem erzählt hatte, während wir durch die feuchte Hitze Rio de Janeiros fuhren, in einem Auto, das nach heißem Leder und Rauch roch. Kurz vor der Dämmerung, gegen vier Uhr, hatte jemand meinen Namen gerufen. Es war eine sanfte weibliche Stimme: »Nani«. Ich erwachte, weil ich glaubte, es sei meine Freundin, bei der ich übernachtete, die mich zur Arbeit weckte, aber da war niemand, nur das Zirpen der Nacht. Es war noch dunkel, und ich schlief wieder ein. Als ich dann im Auto saß und Gebäude und Bäume durch einen Schleier aus Tränen an mir vorbeizogen, erinnerte ich mich... und ich weinte noch mehr.
Das war der Ruf, den ich hätte beantworten sollen. Hätte ich es nur gewusst.
Wir kamen an ihrem Haus an, die Sanitäter waren bereits da. Meine Tanten und Onkel, meine Cousins und Cousinen kamen von überall her. Alle standen im Garten, erstarrt, Statuen mit feuchten, roten Augen.
Meine Freundin, die mich dorthin gefahren hatte, war Ärztin. Sie ging hinein, um nach ihr zu sehen, und kam kopfschüttelnd zurück.
»Geh nicht hinein. Das ist nicht mehr deine Großmutter. Erinnere dich an sie, wie sie war.«
Zuerst war ich wütend, aber es war ein guter Rat. Ich konnte in ihren Augen sehen, dass meine geliebte Großmutter nicht wiederzuerkennen war, und ging nicht hinein. Ihr Heim blieb für mich unbefleckt, und dafür danke ich meiner Freundin.
Ihre Leiche wurde ins Krankenhaus gebracht; sie war ohne Zeugen gestorben, und eine Autopsie musste durchgeführt werden. Aber das Schlimmste stand noch bevor: meine Mutter, die zu jener Zeit in einem anderen Bundesstaat lebte. Meine Mutter, die so an ihrer Mutter hing, wie ich an meiner hing, flog ein – und ich musste sie vom Flughafen abholen.
Die Stunden vergingen nicht sanft, respektierten meine Trauer nicht. Dinge mussten erledigt werden, und kein Erwachsener in meiner Familie war in der Verfassung, es zu tun. Das seltsame Kind musste es tun. Das seltsame Kind, das Geistergeschichten und Schauer liebte, das in seiner Freizeit Friedhöfe besuchte, das Gedichte an den Vollmond schrieb, das davon träumte, auf dem Drachen Fuchur zu reiten. Das gotische Romane verschlang, als gäbe es kein Morgen, das vom Vampir Lestat abgeholt werden wollte. Das seltsame Kind mit dem dunklen Blut in seinen Adern. Ich.
Ich folgte den Sanitätern, beantwortete die Fragen. Wartete auf den Bericht und fürchtete, dass meine Mutter sie nicht würde sehen können, weil es heiß war und sie schon lange tot war – seit etwa 4 Uhr morgens...
Meine Mutter musste noch einfliegen, und sie wollten meine Großmutter beerdigen. Mamas Stimme am Telefon hatte jenes verzweifelte Flehen, das nur Trauer hervorbringen kann: »Lass nicht zu, dass sie sie begraben! Ich muss sie sehen!«
Bitte, Gott, lasse es nicht zu.
»Könnten Sie sie bitte einbalsamieren?«, fragte ich das Bestattungsunternehmen. »Meine Mutter muss sie sehen. Bitte…«
Und sie taten es.
Ich verließ das Krankenhaus und stieg in ein weiteres Auto, gefahren von einer weiteren Freundin, und ließ alles los. Ich musste mich ausweinen, denn sobald ich meine Mutter abholte, würde es kein Weinen für mich mehr geben. Jemand musste der Fels sein, und ich war die Einzige, die aus dem richtigen Material bestand.
Der Flughafen war weit entfernt. Ich weinte, bis kein Wasser mehr durch meine Augen gepresst werden konnte.
Ich ließ die betäubende Ruhe der Tränen überhand nehmen und umarmte Mama, als sie aus dem Gate kam, rot wie ein lebendiger Vulkan, vor Tränen brennend.
Mama weinte wie ein Kind, schluchzend, fast ohne zu atmen. Ich war der Fels.
Wir kamen zur Aufbahrung — nach Blumen duftend, die nach Tod riechen, weil auch sie verwelken, geschmückt wie sie waren, geopfert und vergangen. Ich sah meine Großmutter in demselben Moment, als Mama sie sah, und meine Freundin hatte Recht gehabt dort im Garten: Sie sah ihr nicht mehr ähnlich. Es machte es schwer zu glauben, dass sie gegangen war, es würde die Phase der Verleugnung verlängern. Violett wie eine Puppe, mit Watte in der Nase. Das Haar war wunderschön, glänzend schwarz mit weißen Strähnen, so würdevoll! Das Bestattungsunternehmen hatte sein Bestes getan, das konnte man sehen, und ich war so dankbar.
Mama auch.
Als alles vorbei war und meine Mentorin, meine Großmutter, meine Freundin zwei Meter unter der Erde ruhte, um mir nie wieder weise Ratschläge zu geben, wusste ich, dass ich jemand anderes war. Vielleicht sogar etwas anderes.
Meine Ärztin-Freundin sagte: »Jetzt weißt du, was in dir steckt. Du kannst dem Leben ins Auge blicken.«
Einen Monat später flog ich nach Deutschland. Zwei Jahre hin hatte ich ihren Tod noch immer nicht richtig betrauert. Sieben Jahre danach wurde ich Verlagsautorin gotischer Romane. Und mein ganzes Leben lang konnte ich durch die Dunkelheit segeln.
Nun sitze ich hier und schreibe für die Toten, höre sie mich um 4 Uhr morgens rufen, während ich ihre Liebsten durch die Dunkelheit führe, die mein Zuhause ist.
Denn ich bin ein Geschöpf der Nacht.
Ich erinnere mich an jeden Augenblick, als wäre er in mein Gedächtnis eingebrannt, tätowiert. Trauer ist so: Sie verzehrt dich, schleicht sich unter die Haut und wird zu einem Teil dessen, wer du bist.
Ich arbeitete bei einem Seminar als Assistentin der Koordinatorin und unterhielt mich mit einer Freundin, als der Anruf kam. Es war meine Tante:
»Nani?...« mein Spitzname, doch da schwang etwas in ihrer Stimme mit... Ich stand ganz still, als könnte jede Bewegung einen Erdrutsch auslösen, doch wenn ich mich nicht bewegte, würde vielleicht nichts geschehen. Vielleicht würde sie nicht die Worte aussprechen, die sie dann ausprach, und ich würde diese Geschichte jetzt nicht erzählen. Aber ich bewegte mich. Ich bewegte mich, weil ich nach Luft schnappte, und meine Hand fand meine Brust, und sie tat es, weil mein Herz schmerzte. Ich bewegte mich, verstehst du? Ich bewegte mich, und sie sagte es: »Nani, komm nach Hause, deine Großmutter ist gestorben.«
In diesem Moment hörte ich auf zu atmen, meine Knie gaben ein wenig nach, denn da war eine Frage, die gestellt werden musste, meine Trauer brauchte eine Richtung: »Welche Großmutter?« Ich hatte zwei. Für welche sollte ich jetzt zu Boden fallen?
»Deine Oma Carmem.«
Die Mutter meiner Mutter.
Meine Knie waren fort, zersplittert wie zerbrochenes Glas, wie meine Welt in jenem Moment. Ich fiel. Meine Freundin fing mich auf. Ich sah Menschen, die Seminarteilnehmer, wie sie aufstanden, um zu helfen, zu fragen, zu erfahren. »Was ist passiert? Ist jemand gestorben?«
Ja. Meine Großmutter.
Die Fahrt nach Hause war erfüllt von dem nebligen Gefühl erstickter Gedanken. Erinnerungen stürmten herein wie die Wellen eines zornigen Ozeans. Etwas war an diesem Morgen geschehen, etwas, das ich niemandem erzählt hatte, während wir durch die feuchte Hitze Rio de Janeiros fuhren, in einem Auto, das nach heißem Leder und Rauch roch. Kurz vor der Dämmerung, gegen vier Uhr, hatte jemand meinen Namen gerufen. Es war eine sanfte weibliche Stimme: »Nani«. Ich erwachte, weil ich glaubte, es sei meine Freundin, bei der ich übernachtete, die mich zur Arbeit weckte, aber da war niemand, nur das Zirpen der Nacht. Es war noch dunkel, und ich schlief wieder ein. Als ich dann im Auto saß und Gebäude und Bäume durch einen Schleier aus Tränen an mir vorbeizogen, erinnerte ich mich... und ich weinte noch mehr.
Das war der Ruf, den ich hätte beantworten sollen. Hätte ich es nur gewusst.
Wir kamen an ihrem Haus an, die Sanitäter waren bereits da. Meine Tanten und Onkel, meine Cousins und Cousinen kamen von überall her. Alle standen im Garten, erstarrt, Statuen mit feuchten, roten Augen.
Meine Freundin, die mich dorthin gefahren hatte, war Ärztin. Sie ging hinein, um nach ihr zu sehen, und kam kopfschüttelnd zurück.
»Geh nicht hinein. Das ist nicht mehr deine Großmutter. Erinnere dich an sie, wie sie war.«
Zuerst war ich wütend, aber es war ein guter Rat. Ich konnte in ihren Augen sehen, dass meine geliebte Großmutter nicht wiederzuerkennen war, und ging nicht hinein. Ihr Heim blieb für mich unbefleckt, und dafür danke ich meiner Freundin.
Ihre Leiche wurde ins Krankenhaus gebracht; sie war ohne Zeugen gestorben, und eine Autopsie musste durchgeführt werden. Aber das Schlimmste stand noch bevor: meine Mutter, die zu jener Zeit in einem anderen Bundesstaat lebte. Meine Mutter, die so an ihrer Mutter hing, wie ich an meiner hing, flog ein – und ich musste sie vom Flughafen abholen.
Die Stunden vergingen nicht sanft, respektierten meine Trauer nicht. Dinge mussten erledigt werden, und kein Erwachsener in meiner Familie war in der Verfassung, es zu tun. Das seltsame Kind musste es tun. Das seltsame Kind, das Geistergeschichten und Schauer liebte, das in seiner Freizeit Friedhöfe besuchte, das Gedichte an den Vollmond schrieb, das davon träumte, auf dem Drachen Fuchur zu reiten. Das gotische Romane verschlang, als gäbe es kein Morgen, das vom Vampir Lestat abgeholt werden wollte. Das seltsame Kind mit dem dunklen Blut in seinen Adern. Ich.
Ich folgte den Sanitätern, beantwortete die Fragen. Wartete auf den Bericht und fürchtete, dass meine Mutter sie nicht würde sehen können, weil es heiß war und sie schon lange tot war – seit etwa 4 Uhr morgens...
Meine Mutter musste noch einfliegen, und sie wollten meine Großmutter beerdigen. Mamas Stimme am Telefon hatte jenes verzweifelte Flehen, das nur Trauer hervorbringen kann: »Lass nicht zu, dass sie sie begraben! Ich muss sie sehen!«
Bitte, Gott, lasse es nicht zu.
»Könnten Sie sie bitte einbalsamieren?«, fragte ich das Bestattungsunternehmen. »Meine Mutter muss sie sehen. Bitte…«
Und sie taten es.
Ich verließ das Krankenhaus und stieg in ein weiteres Auto, gefahren von einer weiteren Freundin, und ließ alles los. Ich musste mich ausweinen, denn sobald ich meine Mutter abholte, würde es kein Weinen für mich mehr geben. Jemand musste der Fels sein, und ich war die Einzige, die aus dem richtigen Material bestand.
Der Flughafen war weit entfernt. Ich weinte, bis kein Wasser mehr durch meine Augen gepresst werden konnte.
Ich ließ die betäubende Ruhe der Tränen überhand nehmen und umarmte Mama, als sie aus dem Gate kam, rot wie ein lebendiger Vulkan, vor Tränen brennend.
Mama weinte wie ein Kind, schluchzend, fast ohne zu atmen. Ich war der Fels.
Wir kamen zur Aufbahrung — nach Blumen duftend, die nach Tod riechen, weil auch sie verwelken, geschmückt wie sie waren, geopfert und vergangen. Ich sah meine Großmutter in demselben Moment, als Mama sie sah, und meine Freundin hatte Recht gehabt dort im Garten: Sie sah ihr nicht mehr ähnlich. Es machte es schwer zu glauben, dass sie gegangen war, es würde die Phase der Verleugnung verlängern. Violett wie eine Puppe, mit Watte in der Nase. Das Haar war wunderschön, glänzend schwarz mit weißen Strähnen, so würdevoll! Das Bestattungsunternehmen hatte sein Bestes getan, das konnte man sehen, und ich war so dankbar.
Mama auch.
Als alles vorbei war und meine Mentorin, meine Großmutter, meine Freundin zwei Meter unter der Erde ruhte, um mir nie wieder weise Ratschläge zu geben, wusste ich, dass ich jemand anderes war. Vielleicht sogar etwas anderes.
Meine Ärztin-Freundin sagte: »Jetzt weißt du, was in dir steckt. Du kannst dem Leben ins Auge blicken.«
Einen Monat später flog ich nach Deutschland. Zwei Jahre hin hatte ich ihren Tod noch immer nicht richtig betrauert. Sieben Jahre danach wurde ich Verlagsautorin gotischer Romane. Und mein ganzes Leben lang konnte ich durch die Dunkelheit segeln.
Nun sitze ich hier und schreibe für die Toten, höre sie mich um 4 Uhr morgens rufen, während ich ihre Liebsten durch die Dunkelheit führe, die mein Zuhause ist.
Denn ich bin ein Geschöpf der Nacht.